22. Juni 2023
Stellungnahme zur Berliner Senatsvorlage über Maßnahmen zum „Gesamtstädtischen Aufarbeitungskonzept zu Berlins kolonialer Vergangenheit“
Decolonize Berlin begrüßt den Beschluss des Berliner Senats (Drucksache 19/0954) vom 24.04.2023 zu Maßnahmen zum „Gesamtstädtischen Aufarbeitungskonzept zu Berlins kolonialer Vergangenheit als einen wichtigen Schritt im Prozess um die dekoloniale Aufarbeitung im Land Berlin und fordert auch unter der neuen Landesregierung die Fortführung des Dialoges zwischen den betroffenen Senatsverwaltungen und der Koordinierungsstelle “Gesamtstädtischer Aufarbeitungsprozess zu Berlins koloniale Vergangenheit” ein.
Seit Mai 2020 ist eine Koordinierungsstelle beim Verein Decolonize Berlin angesiedelt. Sie wurde eingerichtet, nachdem das Berliner Abgeordnetenhaus 2019 die Entwicklung eines gesamtstädtischen Aufarbeitungs- und Erinnerungskonzepts zur Geschichte und zu den Folgen des Kolonialismus des Landes Berlins beschlossen hatte (DS 18/1788). Die Koordinierungsstelle hat in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Verwaltung und Politik ein Konzept für eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit partizipativ erarbeitet. Unter Federführung der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe und mit Begleitung der Koordinierungsstelle bei Decolonize Berlin hat der Berliner Senat (DS 19/0954) dieses Konzept im Frühjahr 2023 angenommen und Schritte zur Umsetzung benannt. Dieses Konzept versteht sich als Beitrag zur UN-Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft (s. Drucksache Nr.18/1260).
Die im Beschluss genannten Schritte bewertet Decolonize Berlin folgendermaßen: Diese Drucksache ist bezüglich der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit einer Stadt bundesweit bisher einmalig. Die Drucksache folgt dem zivilgesellschaftlich eingeforderten Ansatz, dass koloniale Aufarbeitung in jedem gesellschaftlichen Bereich nötig ist und als Querschnittsthema alle Verwaltungen einer Stadt oder Kommune berührt. Es ist gelungen, dass dieser Beschluss den Regierenden Bürgermeister, die Senatskanzlei sowie sieben Berliner Senatsverwaltungen adressiert und von ihnen Stellungnahmen beinhaltet. Die Maßnahmen gehören zu den Teilbereichen: Gesetzesgrundlagen, Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur, Erinnerung und Stadtgesellschaft sowie Internationale Beziehungen im Land Berlin und orientieren sich am zivilgesellschaftlichen Forderungskatalog. Positiv hervorzuheben ist, dass die Verwaltungen Ansätze wie “Dekolonisierung”, “dekoloniale Bildung” und “Diversitätsbildung” benennen sowie auch die Notwendigkeit hervorheben, “Schwarze und migrantische Forschende sowie Praktikerinnen und Praktiker” einzubeziehen (S. 16) oder, dass “ein spezielles Handlungsfeld zu Kolonialismus und Kolonialität” im Rahmenkonzept zu kultureller Bildung umgesetzt werden kann (S. 24). In der Praxis werden allerdings immer noch viele Ressourcen von Institutionen und einzelnen Wissenschaftler:innen herangezogen, die nur unzureichende Expertisen im Umgang mit kolonialen Spuren nachweisen können. Wenn die Verwaltung sich weiter entgegen ihrer Aussage nur auf diese Wissensquellen und Expertisen beruft, ist absehbar, dass auch der Prozess der Aufarbeitung nicht erfolgreich verlaufen wird. Die Sensibilisierung bezüglich der Notwendigkeit kolonialer Aufarbeitung ist je nach Verwaltung und Fachabteilung sehr unterschiedlich ausgeprägt, was sich in den Stellungnahmen widerspiegelt. In manchen Fachabteilungen steht die koloniale Aufarbeitung noch ganz am Anfang. Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig es ist, dass die Hausleitungen den Prozess zur kolonialen Aufarbeitung unterstützen und Dekolonisierung als Querschnittsaufgabe in der Verwaltung vorantreiben.
Bewertung der allgemeinen Maßnahmen zur kolonialen Aufarbeitung (S.1-10)
Positiv hervorzuheben ist, dass Maßnahmen im Bereich der Antidiskriminierung als eine Möglichkeit der Dekolonisierung benannt werden. Demnach wird auch Diskriminierung als eine Kontinuität des Kolonialismus anerkannt. Bezüglich der Abschaffung von Sonderbefugnissen der Sicherheitsbehörden in sogenannten „kriminalitätsbelasteten” Orten benennt die Berliner Innenverwaltung “racial profiling” als eine Praxis präventiver Identitätsfeststellung, die nicht zulässig ist (S. 5). Damit wird das “racial profiling” und die Unzulässigkeit mit der kolonialen Vergangenheit in Zusammenhang gebracht. Die Verwaltung betont, dass eine wissenschaftliche Studie zur Polizei der Technischen Universität (TU) Berlin keinen strukturellen Rassismus und keine rassistischen Kontrollen festgestellt hat. Dabei hat die Studie selbst zahlreiche Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Polizeiarbeit mit Blick auf die Vermeidung von Diskriminierung und Rassismus aufgeführt, darunter auch: “Verpflichtende regelmäßige Aus- und Fortbildungsinhalte für Polizeibeamte, z. B. zu den Themen Werte und Haltungen sowie zur kolonialen Geschichte Deutschlands (und u. U. der Länder Europas) und ihrer rassistischen Kontinuitäten, auch zum Nachvollzug aktueller gesellschaftlicher Bezüge und Sprachentwicklungen” (Howe et. al. 2022: S.7). Der strukturelle und institutionelle Rassismus wird immer wieder durch Privatpersonen und von NGO´s sowie öffentliche Meldestellen und der Ombudsstelle der LADG offengelegt und macht den praktischen Handlungsbedarf deutlich.
Leider werden die Lücken im Schulgesetz und im Kindertagesförderungsgesetzes bezüglich des Schutzes vor Diskriminierung von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie nicht anerkannt. Die Koordinierungsstelle hatte gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Organisationen diese Lücken identifiziert und angesichts der hohen Meldungen bezüglich der Diskriminierung in Berliner Bildungsinstitutionen die Schutzlücken festgestellt.
Bewertung der Maßnahmen zum Teilbereich Bildung und Wissenschaft (S. 11-28 und S. 31-39)
Im Bereich Vorschulbildung antwortet die Senatsverwaltung auf die Empfehlung, das Berliner Bildungsprogramm für Kitas und Kindertagespflege (BBP) dekolonial und global verantwortlich zu überarbeiten (S. 17), dass dies bereits in der Aktualisierung von 2014 erfolgt ist. Allerdings hat das von der Koordinierungsstelle beauftragte Gutachten von Prof. Dr. von Maisha Auma die Kolonialität des Berliner Bildungsprogramms als Steuerungsinstrument nachgewiesen. Es befindet sich in der “Kulturalisierungsfalle”, indem es beständig über die vermeintliche „Kultur“ rassistisch marginalisierter Subjekte spricht, während gleichzeitig über die „Struktur“ struktureller Ausschlüsse bzw. institutioneller Diskriminierung „geschwiegen“ wird (Gutachten, S. 32). Dies bezieht sich auch auf andere Ungerechtigkeitsdimensionen (wie z.B. Behinderung) und spiegelt sich auch in der Bildsprache wider.
Die Senatsverwaltung für Bildung, Familie und Jugend weist auf die Bedeutung ihres ausführlichen Beschwerdemanagement bezüglich des Umgangs mit Diskriminierungsfällen hin. Umso unzulänglicher ist es, dass die Stelle der/des Antidiskriminierungsbeauftragen der Bildungsverwaltung seit fast drei Jahren nicht besetzt ist. Gleichzeitig werden zivilgesellschaftliche Partizipationsprozesse an der Aushandlung von Ausbildungsinhalten für Berliner Lehrkräfte als “Partikularinteressen” abgewertet (S. 21). Dies deutet auf mangelnde Sensibilität für ein demokratisches Aushandlungsverfahren hin und ignoriert, dass die universitäre Auseinandersetzung mit Kolonialismus und die Einsicht für eine umfassende Beschäftigung mit der Kolonialvergangenheit insbesondere bei Bildungsakteur:innen bereits weit vorangeschritten ist. Das Gutachten von Kamady Fofana und Nadine Golly, das von der Koordinierungsstelle in Auftrag gegeben wurde, zeigt Möglichkeiten für eine verpflichtende rassismuskritische Professionalisierung in der Lehrkräfteausbildung auf. Sie kommen zu der Aussage: “Auf Basis der Formulierungen in den Bildungsstandards hätte das Land Berlin die Möglichkeit, rassismuskritische bzw. diskriminierungskritische Inhalte in das Lehrkräftebildungsgesetz zu inkludieren“ (Gutachten S. 61). Die Senatsverwaltung für Bildung betont im Senatsbeschluss die “Freiheit von Forschung und Lehre” und sagt aus, dass verpflichtende Antirassismusmodule in der Berliner Lehramtsausbildung nicht umsetzbar seien. Dabei werden andere Lehrinhalte, Bildungs- und Lerntheoretische Konzepte und Anforderungen an die Kompetenzentwicklung von Lehrkräften bereits in der Studienordnung verpflichtend geregelt. Befürwortet werden von der Senatsverwaltung für Bildung die “gemeinsame Erstellung eines diskriminierungskritischen und globalverantwortlichen Leitfadens für Lern- und Lehrmittel, der Schulen zur Verfügung gestellt wird, in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen” sowie “Vernetzungsangebote für Lehrkräfte of Color schaffen (z. B. über Empowerment-Seminare)” zu schaffen (S. 23).
Im Bereich der Wissenschaftsverwaltung wird deutlich, dass die grundsätzliche Bedeutung dekolonialer Wissensproduktion nicht ausreichend bekannt ist. Die Verwaltung sieht eine “Verpflichtung zur Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Berlins im Hochschulgesetz” als nicht nötig an, da “die Mehrheit der Berliner Hochschulen so jung ist, dass sie als Institution keine koloniale Vergangenheit hat.” Dabei verdeutlicht das von der Koordinierungsstelle in Auftrag gegebene Gutachten von Dr. Akiiki Babyesiza, die in den Universitäten verankerten kolonialen Wissenstraditionen, die sich auch in den Folge Institutionen widerspiegeln. Der Einsatz von Wissensinstitutionen zur Aufrechterhaltung kolonialer Herrschaft wird hier genauso thematisiert, wie die in die Gegenwart reichenden kolonialen Kontinuitäten, nicht nur in Studiengängen wie den sogenannten Afrikawissenschaften oder etwa der Ethnologie.
Bewertung der Maßnahmen zum Teilbereich Kunst und Kultur (S. 52-64)
Decolonize Berlin begrüßt, dass die Senatsverwaltung für Kultur und Europa vielen Vorhaben positiv gegenübersteht. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang das Kulturprojekt „Dekoloniale-Erinnerungskultur in der Stadt“, die Einrichtung einer Stelle zur Erarbeitung eines Erinnerungskonzepts “Kolonialismus” für Berlin und die Unterstützung der Berliner Museen bei der Verwirklichung von dekolonialen Ausstellungspraxen zu nennen. Gleichzeitig erklärt dieselbe Senatsverwaltung jedoch, dass für die Projekte in diesem Bereich keine weiteren Haushaltsmittel zur Verfügung stünden.
Einige der Forderungen verortet die Berliner Kulturverwaltung auf Bundesebene. Das von der Koordinierungsstelle in Auftrag gegebene Gutachten “zum Bestand menschlicher Überreste/ Human Remains aus kolonialen Kontexten in Berlin” zeigt jedoch die tiefe Verstrickung Berliner Institutionen in die Verschleppung menschlicher Gebeine nach, auch weil sich hier viele Sammlungen, Kolonialgesellschaften und Forschungseinrichtungen befanden. Aus Sicht von Decolonize Berlin lässt sich dadurch eine besondere Verantwortung des Landes Berlins bezüglich einer Repatriierung von menschlichen Gebeinen und die Restitution von Kultur- und Naturobjekten aus kolonialen Kontexten ableiten.
Bewertung der Maßnahmen zum Teilbereich Internationale Beziehungen (S. 40-51)
Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe möchte die Publikationen des Landes Berlin auf Stereotype, rassistische und exotisierende Darstellungen von Ländern des Globalen Südens überprüfen und wünscht sich eine Handreichung zum Vorgehen mit Kriterien/Leitlinien. Der Forderung “Entwicklungspolitik dekolonisieren” steht die Verwaltung grundsätzlich offen gegenüber, trifft allerdings keine konkreten Aussagen. Bedauerlich ist, dass die Verwaltung auf die Forderung einer institutionellen Förderung von migrantisch und afrodiasporischen Vereinen antwortet, dass nur Projekte gefördert werden können, die der Richtlinie zur Förderung von Projekten der Inlands- und Bildungsarbeit der Entwicklungspolitik entsprechen. Dies suggeriert, dass migrantisch und afrodiasporische Vereine diese Richtlinie nicht kennen oder ihr häufig nicht entsprechen. Wünschenswert wäre gewesen, die Richtlinie bezüglich der stärkeren Unterstützung von migrantisch und afrodiasporischen Vereinen in der Entwicklungspolitik hin zu überprüfen.
Ausblick
Gemäß des Senatsbeschlusses wird nun der begonnene Dialog zwischen Koordinierungsstelle, Zivilgesellschaft und Verwaltung fortgesetzt. “Dieser hat zum Ziel, die entwickelten Forderungen in praktische Aktivitäten umzusetzen und herauszuarbeiten, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit eine Umsetzung erfolgen kann. Bei strittigen Punkten zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft soll ein lösungsorientierter Dialog erfolgen, um transparent Möglichkeiten und Grenzen für die Umsetzung dieser Forderungen herauszuarbeiten” (S. 3).
Die Koordinierungsstelle bei Decolonize Berlin wird den Auftrag des Landes Berlin zur Umsetzung der Maßnahmen beginnen und nunmehr als “Koordinierungsstelle zum gesamtstädtischen Aufarbeitungsprozess zu Berlins kolonialer Vergangenheit” bezeichnet. Sie wird sich dafür einsetzen, dass auch die neue Regierung ihrer Verantwortung für Berlin als ehemalige Kolonialmetropole und Ort der Berliner Afrika-Konferenz nachkommt. Es gibt eine klare Erwartung der migrantischen, postmigrantischen, diasporischen und entwicklungspolitischen Zivilgesellschaften, dass der Prozess zur dekolonialen Aufarbeitung auch in den nächsten Jahren weiterhin eine große Bedeutung erhält.
Decolonize Berlin bedankt sich bei allen Aktivist*innen und Fachexpert*innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Politik für ihre Einschätzungen zu dem Senatsbeschluss und das Teilen ihrer Kenntnisse, Erfahrungen und Expertisen. Wir freuen uns über weitere Hinweise, Netzwerke, Kommentierungen.
Vorstand des Vereins Decolonize Berlin e.V, 22.06.2023