Dr. Ibou Diop
Erinnerungen sind das, was bleibt, wenn die Gegenwart vorüber ist
Im August 2019 hat das Berliner Abgeordnetenhaus sowohl die Entwicklung eines gesamtstädtischen Aufarbeitungskonzepts als auch eines Erinnerungskonzepts zur Geschichte und den Folgen des Kolonialismus des Landes Berlins beschlossen.
Maßgeblich beteiligt an der partizipativen Erstellung des Erinnerungskonzepts sind die beiden vom Berliner Senat geförderten Akteure die Koordinierungsstelle für einen gesamtstädtischen Aufarbeitungsprozess zu Berlins kolonialer Vergangenheit (angesiedelt bei Decolonize Berlin e.V.) und das auf fünf Jahre angelegte Modellprojekt Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt (Berlin Postkolonial e.V., Each One Teach One EOTO e.V., Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V., Stiftung Stadtmuseum Berlin). Ebenso beteiligt sind die zivilgesellschaftlichen Organisationen ADEFRA e.V., Afrikarat e.V., Koreaverband e.V. und korientation e.V., die sich seit Jahren für einen Perspektivwechsel in der deutschen Erinnerungskultur einsetzen. Seit September 2022 arbeiten fünf Arbeitsgruppen in einem intensiven Prozess an verschiedenen thematischen Teilbereichen des Erinnerungskonzepts, das Anfang 2024 der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.
Die Bearbeitung eines Erinnerungskonzepts zur Kolonialgeschichte Berlins bedarf kritischer Perspektiven, Ressourcen und einer ständigen Infragestellung. Jeder von uns unternommene Schritt muss darauf abzielen, kolonialrassistische und diskriminierende Realitäten zu konfrontieren und zu überwinden. Wie können wir an etwas erinnern, das nicht in der Mentalitätsgeschichte der Mehrheitsgesellschaft vorhanden ist oder sich nicht in sie eingeschrieben hat? Erinnerungen sind das, was bleibt, wenn die Gegenwart vorüber ist, wenn die Situationen, aus denen sie hervorgingen, längst verschwunden sind. Und weil wir in einer Gesellschaft immer viel zu viele Erinnerungen haben, ist das, was gesellschaftlich erinnert wird, Ergebnis und Ausdruck gesellschaftlicher Dynamiken. Sie verweisen auf Selbstbilder, auf Wünsche und Sehnsüchte und Ideen davon, wer man werden möchte.
Die Erinnerungen einer Gesellschaft sind also nicht unschuldig. Sie sind unter anderem Konstruktionen oder Vorstellungen von gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Das erklärt vielleicht, warum die Erinnerungspolitik lange viele Perspektiven ausgeschlossen hat, die ja zweifelsohne in der deutschen Gesellschaft existierten und existieren. Dass die Geschichte des Kolonialismus stets auch eine Geschichte von Antikolonialismus und Widerstand war, manifestiert sich in den zahlreichen Auseinandersetzungen, die zivilgesellschaftliche Organisationen über Jahre hinweg in ihrer Arbeit, in Ausstellungen, bei Protesten und auch in den umbenannten Straßen deutlich aufzeigen. Berlin ist als Metropole schon immer Ausgangspunkt für Visionen (gute wie schlechte) und Bühne (oder Versteck) für kritische Denker:innen gewesen, die sich mit Fragen der Menschenrechte, der internationalen Solidarität, dem Kampf gegen Unterdrückung, Rassismus und Imperialismus befasst haben.
Postkoloniales Erinnern muss Menschen in ihren Unterschieden ernst nehmen. Postkoloniales Erinnern bedeutet, die bisher unerzählten Geschichten, die erfolgreich von der Mehrheitsgesellschaft marginalisierten Erzählungen, sowie die Geschichte des Widerstands gegen Kolonialismus und Unterdrückung, als integralen Bestandteil der nationalen Geschichte anzuerkennen und in einem europäischen Kontext zu betrachten. Uns geht es nicht darum, eine Geschichte des Nicht-Deutschen der deutschen Geschichte gegenüberzustellen, sondern eine andere Sichtweise der deutschen Geschichte zu entwerfen, die eben auch die Geschichte der Vernichtung anderer Kulturen und Gesellschaften nicht ausblendet. Diese Vernichtung kulminierte in der Shoah und der Vernichtung anderer Minderheiten und politischer Gegner:innen durch die Nazis. Sie hat ihre Vorläufer in dem Umgang mit armen und behinderten Menschen, mit Juden und Jüdinnen, mit queeren Menschen und in den Kolonialverbrechen, die Deutschland verübte. Wenn wir ein Erinnerungskonzept Kolonialismus entwerfen wollen, dann muss es auch darum gehen, diese menschenfeindlichen Denktraditionen zu hinterfragen, auch – und das ist wichtig – in ihrer Relevanz für die Gegenwart.
Eine postkoloniale Erinnerungspolitik kann auf diese Weise Teil einer langsam beginnenden Wiedergutmachung werden. Da die Gegenwart Ergebnis der Vergangenheit ist, an deren Ende sie steht, ermöglicht sie eine Kritik der Vergangenheit. Und weil sie auf die Zukunft gerichtet ist, zwingt sie uns dazu, über uns selbst hinauszudenken und uns für andere Perspektiven zu öffnen. Die Gestaltung einer solchen Erinnerungspraxis erfordert die Bereitschaft, sich auch mit nicht-westlichen Perspektiven zu identifizieren, weil sie eben auch einen Teil des „Demos“ dieser Gesellschaft bilden. Und ein solcher, sich langsam verändernder Blick und Umgang mit den ehemals Kolonisierten, kann zunehmend auch andere Bereiche der Herrschaft und des Selbstbildes des Westens verändern.
Was die Gesellschaften, die durch die Kolonialgeschichte miteinander konfrontiert wurden, in der Zukunft noch hervorbringen werden, kann nicht allein auf der Vergangenheit beruhen und aus ihr schöpfen. Es ist entscheidend, nicht vor einer Geschichte zu erstarren, die man nicht umschreiben kann, sondern sich ihr auf dynamische Weise zu nähern. Man kann den Toten Ehre erweisen, indem man die Fehler von gestern korrigiert. Wenn die Erinnerung einen Wert haben soll, dann ist es vor allem der, dass sie den Fortschritt der Menschheit ermöglicht. Gemeinsames Erinnern bedeutet, dass sich alle Menschen, die von den Ereignissen betroffen waren, in den kollektiven Erinnerungen wiederfinden. Die postkoloniale Erinnerungspolitik versteht dies und transzendiert Zugehörigkeiten, um für die Menschheit geschrieben zu werden. Dies ist bis heute noch nicht erreicht worden.
Dies ist die Aufgabe, die den Regierenden unserer Zeit zufällt. Was ist die Erinnerung an das Kolonialzeitalter in Westeuropa wert, wenn sie daran scheitert, diejenigen zusammenzubringen, die gemeinsam diese Welt gestalten müssen? Und das ist keine Frage, bei deren Beantwortung wir eine Wahl haben. Wir müssen diese Welt gemeinsam (um)gestalten. Oder sie wird uns nicht erhalten bleiben. Das ist vielleicht der zentrale Befund unserer Gegenwart. Und die Geschichten, die wir erzählen, können sich dieser Bedeutung der gemeinsamen Verantwortung nicht entziehen.