Dr. Chripa Schneller
Für eine kritische Diversitätsbildung der Berliner Lehrkräfte
Reicht es eigentlich, dem Thema Diversität gegenüber offen eingestellt zu sein? Und ist Diskriminierungsschutz allein durch den guten Willen aller Beteiligten zu erreichen? Spoiler: nein. Denn wenn dem so wäre, müssten Schulen im Jahr 2024 Orte sein, an denen Kinder nicht mehr unterschiedlich behandelt werden, wenn sie 'anders‘ gelesen werden. Sätze wie “Du siehst gar nicht aus wie ein richtiger Junge“, “Du kannst doch gar nicht so gut sein, du bist nicht deutsch“ oder “…voll billig, wie deine Eltern“ gehörten der Vergangenheit an. Und wenn sie fielen, dann sicher nicht durch Lehrkräfte. Diese wären vielmehr in der Lage, diskriminierende Verletzungen und Konflikte pädagogisch aufzufangen. Dass dem nicht so ist, zeigen die steigende Nutzung von Beratungsstellen, anonyme Beschwerden und die öffentliche Thematisierung von Diskriminierung.1 Natürlich sollen Kinder streiten und dabei lernen, eigene Konflikte zu lösen. Schüler:innen für einen respektvollen Umgang miteinander zu stärken, heißt jedoch, strukturelle Diskriminierung von individuellen Streitigkeiten abgrenzen und intervenieren zu können. Wenn zum Beispiel ein Schwarzes Kind “hässlich“ genannt wird, weil es nicht einem eurozentrischen Ideal entspricht, geht es um mehr als Bodyshaming. Koloniale Kontinuitäten lenken auch heute noch mehr oder weniger bewusst unsere Wahrnehmung von Normen wie beispielweise unsere Vorstellung von Schönheit.
Um die Bedeutung einer kritischen Diversitätsbildung für Lehrkräfte explizit darzustellen, ist es zunächst hilfreich, ein Verständnis von Diversität zu entwickeln. Seth Asumah und Mechthild Nagel nähern sich dem Begriff so:
“Diversity refers to the variety created in any society (and within any individual) by the presence of different points of view and ways of making meaning in discussions and actions which generally flow from references to different races, ethnicities, cultures, and religious heritages, from the differences in the socialization processes of women, men, and gender non-binary people, and from differences that emerge from class, age, and developed ability.”2
Das Zitat macht eines sehr deutlich: Diversität ist gesellschaftliche Realität. Sie besteht in der Vielfalt einer Gesellschaft und in jedem von uns (within any individual). Sie besteht auch in unterschiedlichen Perspektiven (different points of view) sowie in der Schaffung von Bedeutung (making meaning). Und gerade das “making meaning“ ist für eine kritische Diversitätsbildung so wichtig. So wird nämlich darauf hingewiesen, dass alle genannten Dimensionen Konstrukte sind. Ethnizität oder ‚Rasse’ sind beispielsweise nicht genetisch begründbar. Sie sind nicht real, aber sie schaffen Bedeutung. Und sie können sehr reale Folgen haben: sie können zu gesellschaftlichen Ausschlüssen führen. Ein seit Jahrzehnten ausführlich dokumentiertes Beispiel für einen solchen Ausschluss im Bildungssystem ist Klassismus. Ein Kind, das heute die Grundschule besucht, wird sehr viel wahrscheinlicher studieren, wenn beide Eltern selbst einen Hochschulabschluss haben.3 Der Bildungsabschluss der Eltern beeinflusst die Bildungschancen des Kindes – Begabung ist dabei meist zweitrangig.
Auch wenn Gesellschaften also von Vielfalt geprägt sind, findet sich diese gesamtgesellschaftliche Vielfalt nicht automatisch in allen Teilbereichen wieder. Es gibt zahlreiche Repräsentationsdefizite, eben auch im Bereich der Bildung. Dabei spielt nicht nur Klassismus eine Rolle. Auch rassistisch diskriminierte Menschen fehlen sehr deutlich unter Lehrkräften und dort, wo diese ausgebildet werden. Um Rassismus, Klassismus und anderen Formen von Diskriminierung im Klassenzimmer entgegenzuwirken, ist nicht zuletzt bei der Lehrkräfteausbildung anzusetzen. Die Frage, wie Repräsentation insgesamt gestärkt werden kann, hängt direkt mit der Frage nach Diskriminierungsschutz im Bildungsbereich zusammen.
Wo stehen wir in Sachen Diskriminierungsschutz und Diversität? Es gibt aktuell ein wachsendes Bewusstsein, viel guten Willen und in einigen Bereichen auch langjährige Praxis. Jede Berliner Hochschule nennt das Thema Diversität auf ihrer Website oder in ihren Leitlinien. Alle haben Antidiskriminierungsmaßnahmen und verschiedene diversitätsrelevante Stellen (z. B. Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte, Familienbüros etc.). Im Lehramtsstudium gibt es zunehmend Möglichkeiten für machtkritische Reflektionen. Auch viele Berliner Schulen setzen auf konkrete Initiativen, sprechen sich beispielsweise gegen Rassismus aus oder haben Queer-AGs. Nicht zuletzt gibt es in Berlin die gesetzliche Grundlage des Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG), welches einige Lücken des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) im Bildungsbereich schließt. Wenn es die meisten Menschen und Institutionen also gut meinen und ihre Anliegen konkret umsetzen: warum bleiben so viele strukturelle Ausschlüsse weiter bestehen?
Die Antwort liegt in dem Fehlen eines systematischen Verständnisses dieser Diskrepanz. Das Konzept des ‚Reframing’4 bietet eine Grundlage für ein solches Verständnis. Mit Reframing werden zum einen individuelle Umgangsstrategien von diskriminierten Personen beschrieben, die strukturelle Ausschlüsse erhalten und legitimieren, indem sie den eigenen Widerstand als allgemeingültig rahmen. Beispiele dafür sind Queerfeindlichkeit unter BIPoC, die Reproduktion von Rassismus gegen Frauen* of Color durch weiße Frauen* oder die De-Thematisierung von Klassismus bei der Bewertung der eigenen Rassismuserfahrung als Kind von Akademiker:innen. Sätze wie “Bruder, bist du schwul!?“, “Ich sehe deine Hautfarbe doch gar nicht“ oder “Ich habe halt hart gearbeitet und war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort“ sind auch 2024 leider noch an der Tagesordnung. Sie blenden eigene Privilegien aus und verharmlosen Mehrfach-Betroffenheiten als individuelles Problem. Das Problem verstetigt sich, wenn Institutionen diese Perspektiven aufgreifen. Dies zeigt sich in Teilmaßnahmen (z. B. Mentoring für Mädchen*) und meist auf den Einzelfall beschränkte Lösungen. Auch Schulen und andere Bildungsinstitutionen praktizieren so Reframing, sie reproduzieren diskriminierende Strukturen durch (gut gemeinte) institutionelle Diversity-Ansätze.5 Die Strukturen selbst können dadurch aber nicht verändert werden.
Für eine nachhaltige Diversitätspraxis an Berliner Schulen sind guter Wille und eine offene Haltung wichtige Voraussetzungen. Aber es braucht eine kontinuierliche Vermittlung von Wissen über Diversität und Diskriminierung. Dazu gehören eine solide, theoretische Fundierung hinsichtlich der Zusammenhänge verschiedener Diskriminierungsformen6, des Erkennens und der Vermeidung von Reframing sowie Kenntnis der historischen Kontinuitäten von Diskriminierung.7 Nur dann können Ausschlüsse und Konflikte proaktiv erkannt, vermieden oder sensibel gelöst werden. So wie Schüler:innen in ihren Lernprozessen professionell angeleitet werden, sollte eine kritische Diversitätsbildung für Lehrkräfte auch nicht dem Zufall oder dem Selbststudium überlassen werden. Sie braucht Zeit, Ressourcen und Expertise. Denn es geht um die Würde von Kindern.
[1] Das Video “Die 4 Punkte – Kinder testen die Antidiskriminierungsstelle KiDs“ bringt die genannten drei Punkte gut zum Ausdruck. [online] https://www.youtube.com/watch?v=oyObpawcO_Q [abgerufen am 4.09.2024]
[2] Asumah, S. [&] Nagel, M (2024): Reframing diversity and inclusive leadership: race, gender, and institutional change, Albany: State University of New York Press, S. 15-16.
[3] Baudson, T. [&] Altieri, R. (2022): Wer kommt an die Spitze? Klassismus in Academia, in: Forschung [&] Lehre, 29(1), S. 26-28.
[4] Schneller, C. (2023): Does migration matter? Rassifizierende Zugehörigkeitsordnungen im Raum Hochschule und Umgangsstrategien mit der Ansprache als Studierende mit ,Migrationshintergrund‘. Dissertationsschrift an der Universität Bremen, S. 152.
[5] Schneller, C. (2024): Antidiskriminierungsberatung an Hochschulen: von der Theorie zur Praxis. edoc-Server. [Preprint]. https://doi.org/10.18452/29457
[6] Das Stichwort lautet Intersektionalität. Eine kurze Einführung zu Intersektionalität gibt es hier: [online] https://www.gwi-boell.de/de/2019/04/12/intersektionalitaet-eine-kurze-einfuehrung [abgerufen am 04.09.2024]
[7] Burley, S. [&] Lorber, B. (2024): Safety through Solidarity – a radical guide to fighting antisemitism. New York: Melville House Publishing.