Sandrine Micossé-Aikins
Show don’t tell! – Dekolonialität im Berliner Kulturbetrieb
In den letzten Jahren wurden im Hinblick auf eine Dekolonisierung von Kunst und Kultur vor allem Fragen der Provenienz und der Restitution verhandelt – und teils in die Praxis überführt. Es ging aber auch um Fragen der Repräsentation im Kontext musealer Ausstellungspraxen, darum, wie hier vor allem deutsche Geschichte erzählt wird und welche Auslassungen und Überschreibungen dabei stattfinden. Die Auseinandersetzungen rund um das Humboldt Forum sind wohl das prominenteste Beispiel für eine Debatte, an der sich mächtige Kulturinstitutionen teils nur deshalb widerwillig beteiligen, weil Zivilgesellschaft unermüdlich und seit mehreren Jahrzehnten darauf besteht.
Heutzutage kann man sich zumindest nicht mehr widerspruchsfrei der Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und ihren Kontinuitäten entziehen. Jedoch neigt der Kulturbereich dazu, Fragestellungen kuratorisch u inszenieren, anstatt sie auf einer strukturellen Ebene zu lösen. Nicht umsonst haben in den letzten Jahren unzählige Podiumsveranstaltungen, Runde Tische und Workshops stattgefunden, in denen über „Dekolonialität“, „Diversität“ (seltener auch „Diskriminierung“) diskutiert wurde.
Eine nachhaltige Dekolonisierung erfordert jedoch Handeln. Die Rückgabe von kolonialen Raubgütern ist dabei nur ein – wenn auch wichtiger – Aspekt. Die Vision eines dekolonialen Kulturbetriebs sollte im Idealfall darauf abzielen, die auf einem kolonialen Weltverständnis basierenden Alltags- und Organisationspraxen, Kommunikationformen, Hierarchien und Entscheidungsstrukturen in Kulturinstitutionen nicht nur nicht zu wiederholen oder aufrecht zu erhalten. Stattdessen sollten sie durch bessere Praxen ersetzt werden: solche, die geleitet sind von Kollektivität, Selbstreflexion, Nachhaltigkeit und Respekt.
Um diesem Ideal näher zu kommen, gilt es, das noch immer vorherrschende Verständnis von Kunst und Kultur kritisch zu hinterfragen. Oftmals wird im Kulturbetrieb auf Konzepte wie „künstlerische Qualität“ oder „künstlerische Exzellenz“ zurückgegriffen, die – ohne in ihren Kriterien genauer definiert zu sein – dazu dienen, die Ausdrucksformen, Ästhetiken und Themen, die nicht dem Bild etablierter Entscheider:innen entsprechen, auszusortieren. Dies zeigt sich zum Beispiel im Rahmen von Förderentscheidungen oder in der kuratorischen Arbeit oder bei der Besetzung von (Leitungs-)Positionen. Von diesen Ausschlüssen sind viele Kulturtätige betroffen, darunter solche mit Rassismuserfahrungen, Menschen mit Behinderung, Klassismuserfahrene, LGBTQI+ und andere.
Dekolonisierung würde bedeuten, unter anderem künstlerisches Schaffen, Kunstkritik, künstlerische Ausbildung, Kulturförderung und Zusammenarbeit im Kunstbetrieb neu zu denken. Zu einem dekolonialen Kunst- und einem kritischeren Selbstverständnis können wir nur im Rahmen umfassender machtkritischer Strukturen und Praxis finden.
Einige Projekte oder Förderprogramme, wie z.B. FAIRSTAGE, das 360°-Programm der Kulturstiftung des Bundes, die Diversitätsoffensive der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber auch einzelne Akteur.innen und (meist kleinere) Institutionen haben auf unterschiedliche Weise konkrete Schritte in Richtung einer machtkritischen und diversitätsorientierten Praxis gewagt. Jedoch werden diese Versuche derzeit noch stark durch ungeeignete übergeordnete Strukturen des Kulturbetriebs erschwert.
Die Zeit, die personellen und finanziellen Ressourcen, die für eine kritische Selbstreflexion und für eine organisatorische (Weiter-)Entwicklung notwendig sind, sind im Alltagsgeschäft von Kulturinstitutionen zu selten eingeplant. So kommt es, dass sich auch in Organisationen, die sich programmatisch sehr viel mit den genannten Themen beschäftigen, problematische Strukturen und Machtmissbrauch in der Arbeitskultur wiederholen. Bisher gibt es (sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene) kaum Fördermöglichkeiten für Strukturarbeit, die vor allem kleine Organisationen ohne zusätzliche Gelder nicht leisten können.
Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche, regelmäßig stark geförderte Institutionen, die meist aufgrund des fehlenden Engagements der Leitung wenig bis keine Maßnahmen im Sinne eines dekolonialen, macht- und diskriminierungskritischen Strukturwandels ergreifen.
Für Menschen mit Marginalisierungserfahrung bleibt der Kulturbetrieb weiterhin schwer zugänglich, wenig relevant und finanziell unsicher und damit als Karriereoption eher unattraktiv. Genau diese Menschen werden jedoch für einen Wandel in diesem Bereich unbedingt gebraucht.
Viele Diversitätsmaßnahmen konzentrieren sich stark auf (große) Kulturinstitutionen. Zu wenig Aufmerksamkeit wurde dabei bisher auf die Frage des Commitments und die Antidiskriminierungs- und Leadership-Kompetenzen von Leitungen gelegt. Folgerichtig wird immer wieder gefordert, bei der Besetzung von Leitungspositionen stärker auf diese Punkte zu achten und bei existierendem Führungspersonal auf Weiterbildung und Qualifikation zu bestehen. Überhaupt sollte Leitungspersonal hinsichtlich der Einhaltung von Diversitätsstandards und der Durchführung von Maßnahmen mehr in die Pflicht genommen werden (Aktionspläne und Zielvereinbarungen bieten sich hier beispielsweise als Werkzeuge an).
Kleinere engagierte Betriebe, die bei diversitätsorientierten Veränderungsprozessen oft vorangehen, können mittels eines eigens dazu bestimmten Fördertopfes besser unterstützt werden, Weiterbildungen, (juristische) Beratung, Hilfsmittel für den Barriereabbau etc. zu nutzen.
Noch stärker müssen Barrieren in der Förderung abgebaut werden, die es vielen, vor allem aber Kulturtätigen mit Behinderung, erschweren, einen gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Geldern zu erhalten. Dies betrifft alle Ebenen der Förderung, z.B. die Antragstellung aber auch Juryentscheidungen und die Antragsabrechnungsphase.
Nach wie vor fehlt es an einer gezielten, insbesondere klassismussensiblen Nachwuchsförderung. Es bedarf sowohl finanzieller als auch diskriminierungskritischer ideeller Maßnahmen, um Marginalisierte dabei zu unterstützen, eine Karriere im Kulturbetrieb zu beginnen und erfolgreich zu verfolgen. Mentor:innen mit eigenen Diskriminierungserfahrungen können hierbei eine Schlüsselrolle spielen.
Kunst und Kultur gehören zu den wichtigsten Gründen, weshalb Menschen Berlin besuchen und mittels derer die Stadt sich selbst erzählt. Es ist notwendig, dass sich die schon lange vielfältige Berliner Gesellschaft mit ihren Themen und Aushandlungen im Kulturbetrieb widerspiegelt und wiedererkennt.