Koordinierungsstelle

Vom Forschungsobjekt zum selbstbestimmten Subjekt werden – für eine postkoloniale Wissenschaft

Die europäische Erkenntnistheorie und deren Wissensbestände beruhen auf einer strikten Trennung: der Trennung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt. Die Übertragung dieser ursprünglich naturwissenschaftlichen Methode auf die Sozialwissenschaften hatte in der Geschichte, aber auch in der Gegenwart, verheerende Folgen. Der Kolonialismus und seine Verbrechen wurden durch anthropologische und ethnologische Forschungen, die auf der Subjekt-Objekt-Spaltung beruhen, ‘wissenschaftlich’ legitimiert. Der vermeintlich objektive Wissenschaftler, zumeist ein weißer Europäer, ‘erforschte’ Menschen und Gesellschaften des globalen Südens, die dabei zu ‘leblosen’ Objekten degradiert wurden – ohne Rechte und Handlungsmacht.

Das Ergebnis der ‘Forschung’ war von vornherein klar: Die vermeintliche Überlegenheit des Globalen Nordens wurde ‘wissenschaftlich’ belegt und damit die Rechtfertigung für koloniale Praxis geschaffen.

Die Hierarchisierung von Gesellschaften aufgrund kultureller Unterschiede hat eine lange Tradition. Der europäische Kolonialismus begann bereits im 15. Jahrhundert damit, Kulturen aus europäischer Perspektive zu kategorisieren. Dabei setzte sich das christliche Europa an die Spitze einer selbst konstruierten Zivilisation. Je größer die Nähe zum europäischen bzw. westlichen Selbst, desto zivilisierter galt die jeweilige Kultur. Und je weiter entfernt die Kulturen und Lebensweisen anderer Gesellschaften gesehen wurden, desto rückständiger und unzivilisierter galten sie schließlich. Bei der Bestimmung, ob eine Gesellschaft letztlich als ‘zivilisiert’ oder ‘unzivilisiert’ galt, spielte (und spielt) das wissenschaftliche Paradigma der Subjekt-Objekt-Spaltung eine wichtige Rolle.

Und diese Erkenntnis ist folgenreich, denn schließlich galt es als ‘White Man's Burden’, vermeintlich rückständige Gesellschaften auf den Weg der ‘Zivilisation’ zu führen. Damit wurde der Kolonialismus nicht nur legitimiert, sondern geradezu zur ‘moralischen’ Pflicht erhoben.

Vor diesem Hintergrund sind widerständige Perspektiven und Widerstände kaum oder gar nicht Gegenstand von Dokumentation und Forschung und damit auch nicht Teil des Wissenskanons. Alles wird aus der Perspektive der Dominanzgesellschaft geschrieben, der es gelungen ist, alternative Wissensformen unsichtbar zu machen, um die eigene Dominanz nicht in Frage zu stellen und auch aufgrund eines sehr engen Verständnisses von Wissenschaftlichkeit, wie der einseitige Bezug auf Verschriftlichung.

Diese Wissenschaftstradition ist auch heute noch an europäischen Universitäten und Forschungseinrichtungen in aller Welt wirksam. Welches Wissen gilt als ‘Wissen’? Wer tritt im heutigen Wissenschaftsbetrieb als Subjekt auf und wer wird zum leblosen Objekt degradiert? Wer ist Teil von akademischen Diskursen und wessen Perspektive fehlt? Und wie kann/können Wissenschaft/-en aussehen, die mit diesem längst überholten Paradigma brechen? Und wie wirken sich diese wissenschaftlichen Auseinandersetzungen auf die Struktur der Gesellschaft und den Alltag der Menschen aus? Diese Fragen beschäftigen nicht nur uns auf der Suche nach einer postkolonialen Wissenschaft.

In den vergangenen Jahren haben wir uns in verschiedenen Formaten mit den oben gestellten Fragen auseinandergesetzt. In diesem Jahr haben wir uns auf die praktischen Auswirkungen kolonialer Kontinuitäten im Recht konzentriert und gemeinsam mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) den Sammelband “Dekoloniale Rechtswissenschaft und -praxis” herausgegeben, in dem sich die Autor:innen unter anderem mit den fortdauernden Auswirkungen kolonial geprägter Strukturen im modernen (Völker-)Recht auseinandersetzen. Dieser Sammelband ist bewusst als wissenschaftliche Intervention konzipiert und soll Rechtswissenschaftler:innen sowie Aktivist:innen dazu anregen, sich kritisch mit der Thematik auseinanderzusetzen.