Die Koordinierungsstelle im Gespräch mit Meral El, Kulturwissenschaftlerin
„Alle Schulbücher sollten einer diskriminierungskritischen Prüfung unterzogen werden”
DB: Im Jahr 2020 hat unsere Koordinierungsstelle bei Decolonize Berlin gemeinsam mit der Berliner Zivilgesellschaft in verschiedenen Veranstaltungen Forderungen erarbeitet, die auf einer langen Tradition antikolonialen und antirassistischen Widerstands basieren. Bis Ende 2021 wurden konkrete Maßnahmen formuliert und dem Berliner Senat vorgelegt. Eine zentrale Säule der Forderungen betrifft den Schul- und Bildungsbereich. Du hast für ein anderes Bundesland, nämlich Bremen, ein Gutachten zur diskriminierungskritischen Analyse von Schulbüchern verfasst. Kannst Du uns erklären, warum der Bildungsbereich für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit von besonderer Bedeutung ist und wie sich koloniale Kontinuitäten in diesem Bereich ausdrücken?
Koloniale Kontinuitäten im Bereich Bildung sind systemisch. In den von mir analysierten Schulbüchern für die 9. und 10. Jahrgangsstufe im Bereich Gesellschaft und Politik für die Sekundarstufe I an Oberschulen und Gymnasien sehen wir punktuell gute inhaltliche Aufarbeitungen der kolonialen Geschichte. Mehrheitlich sehen wir allerdings die Darstellung von Schwarzen und People of Color als ‚Opfer‘. Der kolonialrassistische, weiß-zentrierte Blick zieht sich durch alle Schulbücher. Die Geschichte wird fast ausschließlich aus einer weiß-eurozentrischen Perspektive aufgearbeitet. Wissen und Perspektiven der kolonialisierten Menschen kommen nur marginal vor.
Bildung, Schule, Schulbücher und Lehrmaterialien haben eine zentrale Rolle in der Wissensvermittlung und Sozialisierung. Diskriminierende, rassistische Wissensbildungen entstehen in einem historischen Kontext, welche sich der Zeit anpassen und verändern. Ebenso entstehen Bedeutungszusammenhänge. Bildung ist eine der zentralen Säulen der Nationalstaatsbildung, ihrer Legitimation und ihrer historischen Herleitung. Für die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit ist es daher wichtig zu schauen, wie diese Geschichte in der Schule gelehrt wird. Daher habe ich im Rahmen der Studie auf der Inhaltsebene nach dem Was gefragt: Was wird thematisiert? Gibt es dabei thematische Auslassungen? Haben diese Auslassungen eine diskriminierende Wirkung? Was fehlt an Inhalten? Welche Perspektiven finden sich in den Inhalten? Welche Perspektiven fehlen? Welche Botschaften werden anhand der Themen vermittelt? Des Weiteren habe ich auf der Text-/Bildebene nach dem Wie geschaut. Wie wird thematisch gearbeitet? Welche Begriffe, Konzepte und Formulierungen finden sich in den Schulbüchern? Welche Wirkung haben diese? Welche Bilder begleiten die Texte? Wie wirken diese? Welche Botschaften werden vermittelt?
Möchtest Du uns die wichtigsten Erkenntnisse aus Deinem Gutachten für das Land Bremen kurz zusammenfassen? Welche Relevanz haben diese Erkenntnisse möglicherweise für Berlin?
Schulbücher sind nicht isoliert, sondern als Teil der Gesellschaft zu betrachten. Heterogenität und Repräsentanz allein führen nicht zu einer diskriminierungssensiblen Bildung und einem inklusiven Wir. Es bedarf einer dezidiert diskriminierungskritischen Haltung. In Europa sind über Jahrhunderte diskriminierende Wissensbestände fortgeschrieben worden. Es ist unabdingbar, dass Schulbuchverlage externe Expert:innen aus den kolonisierten, rassifizierten und diskriminierten Gruppen sowie zu fachspezifischen Themen, Texten und Bildern im Kontext von Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung - sowohl aus der Forschung, der Fachdidaktik, der außerschulischen Bildung als auch der Zivilgesellschaft - von Beginn an in die Konzeption und Erstellung von Schulbüchern einbeziehen. Alle Schulbücher sollten einer diskriminierungskritischen Prüfung durch eine:n Expert:innen-Kommission/-Beirat unterzogen und hiernach überarbeitet werden. Qualitätsstandards müssen angewandt und angepasst werden. Es braucht eine fortlaufende Aktualisierung der Schulbücher innerhalb der Lizenzen.
Der Berliner Senat hat die Forderungen im Bildungsbereich kommentiert. Wie schätzt Du die Kommentare für den Bildungsbereich ein? Wo muss aus Deiner Sicht noch dringend nachgebessert werden?
Die Kommentare des Senats sind sehr allgemein gehalten. Ich leite daraus ab, dass leider vieles noch nicht substantiell bearbeitet wird. Wenn wir hier Veränderungen wollen, müssen wir als Zivilgesellschaft unsere Konzepte erarbeiten und als Forderung stellen. Hierzu brauchen wir dringend einen regelmäßigen Austausch mit dem Senat.
Zu den zentralen Forderungen der Schwarzen, afrikanischen und afrodiasporischen Zivilgesellschaft gehört eine klare und konkrete Antidiskriminierungsarbeit im Bildungsbereich. Das ist ja auch ein Thema, mit dem Du Dich inhaltlich stark auseinandersetzt. Was muss die Berliner Politik und Verwaltung in diesem Bereich tun? Wie können konkrete Schritte hin zu einer diskriminierungsfreien Bildung aussehen?
Grundsätzlich: Bildung neu denken! Die Schule hat sich in den letzten 40 Jahren marginal verändert. Ich benutze jetzt ein Smartphone und kein Festnetztelefon mit Tasten. Daher würde ich empfehlen, sich auf eine der Forderungen zu konzentrieren, da deren Umsetzung automatisch auch die übrigen Forderungen erfüllen kann. Es steht seit sehr langem die konkrete Forderung der Zivilgesellschaft nach einer unabhängigen Informations- und Beschwerdestelle für Schulen und Kitas. Hierzu gibt es mehr Informationen im Policy Paper, das ich zusammen mit Maryam Haschemi Yekani für das BeNeDisk Netzwerk geschrieben habe: http://www.benedisk.de/wp-content/uploads/2016/03/2016_Empfehlungen-Beschwerdest-Diskriminierung-Schule-Kita-Berlin_F_web.pdf