Koordinierungsstelle
Dekoloniale Rechtswissenschaft und -praxis
Koloniale Annahmen, Theorien und Strukturen sind tief in der Rechtswissenschaft und -praxis verwurzelt, wie beispielsweise in der epistemischen Dominanz westlicher, insbesondere europäischer und nordamerikanischer Rechtsverständnisse und -traditionen oder im Anspruch auf Universalität. Die koloniale Dichotomie zwischen dem „Zivilisierten“ und dem „Wilden“ spiegelt sich nicht nur im Rechtsverständnis und in der Rechtsauslegung der Kolonialzeit wider, sondern wirkt bis in die Gegenwart fort. Sowohl in den Gesetzen als auch in den heutigen internationalen Strukturen und den Menschenrechten, in denen die Machtasymmetrien zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden fortbestehen.
Der im Frühjahr 2024 von Decolonize Berlin und dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) herausgegebene Sammelband „Dekoloniale Rechtswissenschaft und -praxis“ beleuchtet koloniale Kontinuitäten im deutschen und internationalen Völkerrecht und versucht, Theorie und Praxis zu verbinden, ohne sich auf ein einzelnes Beispiel zu beschränken. Die Publikation leistet damit einen Beitrag zu einem breiten Diskurs, der die notwendige Auseinandersetzung mit Kolonialität und strukturellem Wandel im Recht anregt. Diese Reflexion erfordert eine umfassende Transformation von Rechtspraktiken und Wissensstrukturen, die koloniale und diskriminierende Muster reproduzieren. Der Sammelband versteht sich als Impuls für diesen dringend notwendigen Wandel.
Die Artikel der 12 Autor:innen widmen sich Themen wie beispielsweise dem Zugang zu Staatsangehörigkeit, dem Umgang mit dem N*Wort im Strafrecht, der Kolonisierung „Cameroons“, dem Weltrechtsprinzip und einer Analyse des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes. Ein Hauptanliegen ist es, den Leser:innen eine Grundlage für eine selbstkritische Auseinandersetzung zu bieten, die über den Band hinaus in die deutsche Rechtswissenschaft und -praxis hineinwirkt. Die koloniale Vergangenheit prägt nach wie vor unsere Gegenwart und Zukunft, und nur durch die Entwicklung neuer Denk- und Rechtsansätze können diese Prägungen aufgelöst werden. Dazu bedarf es nicht nur der interdisziplinären Zusammenarbeit, sondern auch der Bereitschaft, die eigene Rolle und die Strukturen, in denen man agiert, kritisch zu hinterfragen.
Der Sammelband setzt außerdem einen gesellschaftlichen Gegenpol zur rein theoretischen Lehre und greift die alltäglichen Herausforderungen derer auf, die von diskriminierenden Rechtspraktiken betroffen sind. Beispiele wie das „racial profiling“ in Deutschland oder der Umgang mit Geflüchteten an den Grenzen Europas zeigen, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um strukturelle, institutionell verankerte Probleme handelt.
Die Herausgeber:innen sehen den Sammelband als Raum des Austauschs und Empowerments, in dem Wissenschaft, Praxis und Lebenswelt aufeinandertreffen. Der Band soll dazu anregen, hinter die Fassade des Rechts zu blicken, Argumente gegen diskriminierende Praktiken zu sammeln, das Recht dort anzuwenden, wo es antirassistische, dekoloniale und machtkritische Ansprüche trägt, und Ansätze aufzeigen, wie diese formuliert werden können.
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