Dolly Afoumba und Katharina Lipowsky (Initiative Perspektivwechsel e.V.)
Diversität in deutschen Schulcurricula. Cheikh Anta Diop, Sophie Bosede Oluwole, May Ayim a.o. wanted!
Deutsche Schulcurricula sind eurozentristisch und hauptsächlich von weißen Perspektiven geprägt. Lehrpläne zu diversifizieren, bedeutet, Perspektiven aus dem Globalen Süden einzubinden, europäische Werke kolonial- und rassismuskritisch zu analysieren, aber in diesem Kontext auch auf ihre Relevanz zu überprüfen.
2023 setzte sich die Schwarze Lehrerin Jasmin Blunt mit einer Petition dafür ein, das Buch „Tauben im Gras” vom Lehrplan zu streichen. Das Werk von Wolfgang Koeppen aus dem Jahr 1951 wiederholt etwa einhundertmal unkommentiert das N*Wort und reproduziert sprachlich und inhaltlich rassistische Abwertungen Schwarzer Menschen. In Baden-Württemberg ist es Abitur-Pflichtlektüre. Das dortige Kultusministerium hielt nach dem öffentlichen Protest von Blunt zunächst an dem Werk fest, da über das Buch Rassismus in Deutschland thematisiert werden solle. Blunt gab zu bedenken: „Es gibt auch andere Werke, mit denen man wahnsinnig gut Rassismus aufarbeiten kann, ohne dass man eine Gruppe dehumanisiert.”1[nbsp] Das Ministerium lenkte schließlich ein und stellt es Lehrerenden ab 2025 frei, ob sie das Buch von Koepen mit ihren Schüler:innen lesen.
Mangelnde Rassismus- und kolonialkritische Expertise im Bildungswesen
Die Debatte um „Tauben im Gras” verdeutlicht einmal mehr, wie wichtig es ist, dass Schwarze Menschen durch ihre Präsenz in Bildungsinstitutionen ein Diskurswandel anstoßen. Sie zeigt auch, dass die verantwortlichen Institutionen weiterhin an sogenannten Literaturklassikern festhalten, und wie sehr es an Expertise mangelt, wenn es um die Thematisierung von Rassismus geht. Diese fehlenden Kenntnisse führen dazu, dass rassistische Sprache und Inhalte bei der Thematisierung von Rassismus reproduziert werden, wie im Fall von „Tauben im Gras”. Oder dass Lehrenden Kolonialismus und Rassismus als Themen komplett aussparen.
Dabei könnte die Problematik der mangelnden rassismus- und kolonialkritischen Expertise schon während des Lehramtstudiums behoben werden, beispielsweise mit der Einführung verpflichtender Module zum Umgang mit Diskriminierung und der Diversifizierung von Inhalten. Die Lehramtsstudiengänge konzentrieren sich noch zu sehr auf homogene Ansätze und beinhalten nicht ausreichend die Auseinandersetzung mit kultureller, ethnischer oder sozialer Vielfalt. Diese Lücke in der Ausbildung begrenzt die Fähigkeit des Lehrpersonals, angemessen auf die vielfältigen Bedürfnisse der Schüler:innen in einem zunehmend multikulturellen Umfeld zu reagieren. Oft werden biografische, sprachliche oder kulturelle Erfahrungen von Schüler:innen mit Migrationsbiografie im Unterricht nicht widergespiegelt. Sie fühlen sich daher ausgeschlossen oder missverstanden. Dies kann negative Auswirkungen auf ihre Motivation und schulischen Leistungen haben.2 Darüber hinaus sind Lehrkräfte mit Migrationsbiografie trotz großem Lehrkräftemangels in Deutschland noch immer unterrepräsentiert. Laut einer Angabe der Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (2024) zeichnen sich, „ungenutztes Potenzial für die Gewinnung von qualifizierten Lehrkräften und hohe Hürden für zugewanderte Lehrer:innen (…) in der Anerkennung von ausländischen Lehrberufsqualifikationen ab. In nur 14 Prozent der 2022 abgeschlossenen Antragsverfahren wurden Qualifikationen als voll gleichwertig anerkannt.”3 Und das, obwohl im Jahr 2023 insgesamt 12 Prozent der Neueinstellungen in den Schuldienst keine klassische Lehramtsausbildung (Quereinsteiger:innen) absolviert hatten.
Neben der Ausbildung der Lehrkräfte mangelt es auch in den verwendeten Lehrmaterialien oft an Diversität. Schulbücher und andere pädagogische Ressourcen konzentrieren sich in der Regel auf eurozentrische Perspektiven. Diese begrenzte Darstellung verstärkt Stereotype und nimmt den Schüler:innen die Möglichkeit, sich mit der Vielfalt der Perspektiven auseinanderzusetzen, die unsere heutige Welt prägen. Darüber hinaus sind die im Unterricht behandelten Themen oft nicht inklusiv. Der Unterricht folgt häufig einem eindimensionalen Ansatz, der die Komplexität der Multiperspektivität und der erlebten Realitäten der Schüler:innen nicht widerspiegelt. Selbst wenn der Unterricht Kolonialismus oder Migration aufgreift, werden die Perspektiven der Kolonisierten oder Migrant*innen selbst ignoriert. Dies verstärkt eine verzerrte Sicht auf Geschichte und soziale Dynamiken und schließt wichtige Stimmen von der Debatte aus.
Es ist daher nicht überraschend, dass in Bildungseinrichtungen Schüler:innen mit Migrationsbiografie4 Rassismus und Diskriminierung erfahren. Laut einer 2014 veröffentlichen qualitativen Studie des Diplompädagogen Toan Nguyen zu schulischen Rassismuserfahrungen haben viele Befragte entweder die Schule abgebrochen oder die Einrichtung gewechselt, weil sie das Vertrauen in die Lehrer:innen, das Schulmaterial und die Schule selbst verloren haben. Die Soziologin Nkechi Madubuko stellte 2018 fest, dass „einige sogar aufgrund permanenten Mobbings in der Schule erkrankten“.5 Sie erklärte weiter, dass die ständige Notwendigkeit, sich in der Schule zu behaupten und wiederholt mit rassistischer Ablehnung und Vorurteilen konfrontiert zu sein, für Kinder und Jugendliche eine zusätzliche Herausforderung in ihrer Identitätsentwicklung darstelle.
Aus der Praxis: Antikoloniale Bewegungen im Schulunterricht
Was passiert, wenn Schüler:innen Perspektiven abseits des weißen europäischen Mainstreams kennenlernen, erleben wir immer wieder in unseren Workshops an Schulen. Im Rahmen des Projekts „Auf den Spuren des Widerstands gegen Rassismus” sensibilisieren wir für anti-Schwarzen Rassismus als Vermächtnis deutscher Kolonialgeschichte und ermutigen junge Menschen, sich antirassistisch zu positionieren. Wir lesen mit den Schüler:innen in unserem Comic „Widerstand. Drei Generationen antikolonialer Protest” die Geschichte von Duala Manga Bell, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit weiteren Duala-Königen gegen die rassistischen Pläne der deutschen Kolonialmacht wehrte, die Handelsmetropole Douala in einen Schwarzen und einen weißen Stadtteil zu segregieren. Die Duala nutzen vielfältige Widerstandsstrategien wie Petitionen, Besetzungen, Boykotte oder Demonstrationen, die bis heute von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen genutzt werden, um sich gegen politische Missstände aufzulehnen. Schüler:innen sind häufig überrascht, dass antikoloniale Proteste mit ähnlichen politischen Druckmitteln gearbeitet haben, die ihnen auch aus der heutigen Zeit bekannt sind. Die meisten Schüler:innen kommen durch diesen Comic zum allersten Mal mit Schwarzen/Afrikanischen Perspektiven in Kontakt. Gerade die älteren Zielgruppen ab der Sekundarstufe II bringen ihre Empathie oder Solidarität mit den Kämpfen der Duala zum Ausdruck. Teilweise können Schüler:innen von hier aus bereits an eigenes politisches oder zivilgesellschaftliches Engagement anknüpfen.
Lernplattform Kolonialismus
Anknüpfend an die positive Rezeption des Comics „Widerstand” plant der Verein Initiative Perspektivwechsel e. V. weitere Materialien in Comicform zu entwickeln, die antikoloniale Widerstandsbewegungen porträtieren, welche sich gegen die deutsche Kolonialpolitik und deren Kontinuitäten organisieren. Die Umsetzung in Form einer digitalen Lernplattform soll einen direkten Zugriff auf Lerninhalte bieten sowie die Bestellung von Comics mit Lernaufgaben ermöglichen. Die verhandelten Geschichten des Widerstands sollen anknüpfbar an viele verschiedene Schulfächer sein. Darüber hinaus ist der Aufbau einer Datenbank geplant, die entlang der gültigen Rahmenpläne der Bundesländer Lernwerke und Unterrichtsmaterialien aus antikolonialen Perspektiven des Globalen Südens auflistet.
So könnte beispielsweise der Französischunterricht die Forschungen des senegalesischen Wissenschaftlers Cheikh Anta Diop beinhalten, anstatt die französische Kolonialgeschichte ausschließlich aus der eurozentrischen Sicht der Kolonisatoren zu wiederholen und zu diskutieren. Die Werke der nigerianischen Philosophin Sophie Bosede Oluwole könnten Schüler:innen einen ersten Impuls zu afrikanischen philosophischen Denkschulen vermitteln. Und die Auseinandersetzung mit der Lyrik der Dichterin May Ayim im Deutschunterricht ermöglicht Schüler:innen einen Zugang zum Leben und Schaffen afrodeutscher Communities.
1 https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/bw-kultusministerium-pro-umstrittene-abitur-lektuere-100.html
2 Madubuko, Nkechi (2018). Empowerment als Erziehungsaufgabe: Praktisches Wissen für den Umgang mit Rassismuserfahrungen (S.34). UNRAST Verlag. Kindle-Version.
3 Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung. Bildung in Deutschland kompakt 2024. Zentrale Befunde des Bildungsberichts. Veröffentlicht von dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Kultusminister Konferenz. 2024. S. 8
4 Vgl. Nguyen, Toan : Diversitätsbewusstsein - eine pädagogisch-politische Haltung . Untersterstützen und stärken von marginalisiereten SchülerInnen. In. Reader Schulsozialarbeit, Band 2, S. 16-41, Berlin 2014.
5 Madubuko, Nkechi (2018). Empowerment als Erziehungsaufgabe: Praktisches Wissen für den Umgang mit Rassismuserfahrungen (S.34). UNRAST Verlag. Kindle-Version.