Kolonialismus, dekoloniale Perspektiven und Stadtraum - Impulse für die schulische und bildungspolitische Praxis
Straßen erzählen Geschichte(n)
Bereits im Jahresbericht 2021 und 2022 hat Decolonize Berlin politische Forderungen im Bereich Bildung und Wissenschaft formuliert, darunter das Recht auf rassismus- und diskriminierungsfreie Bildung (basierend auf dem Grundrecht Artikel 26), die Dekolonisierung von Wissensproduktion, Lehr- und Lernmaterialien sowie Kolonialismus als Querschnittsthema zu verankern. Darüber hinaus heißt es im Bericht 2022 dazu:
„Maßnahmen, die im Partizipationsprozess zum Thema Schule genannt wurden, waren: die kolonial- und rassismuskritische Überarbeitung der Rahmenlehrpläne für die Berliner Schulen, nicht zuletzt in Geschichte, Geografie und Gesellschaftskunde, aber auch die Sichtbarmachung kolonialer Verflechtungen in allen anderen Unterrichtsfächern wie auch in Naturwissenschaften, Ethik, Religion.“
Im selben Jahr hat Decolonize Berlin das Gutachten „Was weiß denn ich? Erziehung, Bildung und Bildungsinstitutionen in antikolonialer Kritik“ herausgegeben. Darin betonen die Gutachtenden die Notwendigkeit einer rassismuskritischen und dekolonialen Bildung. 2024 wurden zudem die Rahmenlehrpläne der Fächer Geografie, Geschichte, Politische Bildung und Philosophie in einem öffentlichen Prozess kommentiert und um koloniale Themen ergänzt.
Aus dieser Vorarbeit in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Vereinen und Akteur*innen im Bildungsbereich resultierte die Notwendigkeit eines Bildungsprojektes, das diese Forderungen aufgreift und für die schulische Alltagspraxis konkret anwendbar macht. Das von der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung geförderte Projekt „Gedenken und Erinnern im öffentlichen Raum“ verbindet zwei für Decolonize Berlin wesentliche Aspekte der Dekolonisierung: das Bildungswesen und den Stadtraum. Beide Bereiche lassen sich hinsichtlich der Auseinandersetzung mit kolonialen Kontinuitäten, Erinnerungskultur, hegemonialem Wissen, eurozentrischen Narrativen und nicht zuletzt dekolonialen Maßnahmen miteinander verknüpfen. Ebenso wie Bildungsinstitutionen stellt der öffentliche Raum nicht nur ein Abbild von Themen wie Kolonialismus und seine Kontinuitäten, antikolonialem Widerstand, (Anti-)Rassismus und zivilgesellschaftliches Engagement dar. Es sind vor allem wichtige Orte der Bildung und Wissensgenerierung, der Aufarbeitung, Verhandlung, Wiederaneignung und Demokratisierung. Das Bildungsmaterial soll also dekoloniale Perspektiven für alle Fächer implementieren und darüber hinaus den Stadtraum Berlin als Lern- und Erinnerungsort verstehen und nutzbar machen. Das Material richtet sich an Lehrkräfte der Sekundarstufe I.
Fachübergreifende Anschlussmöglichkeiten
Ein zentrales Ergebnis des Projekts ist die Erkenntnis, dass dekoloniale Perspektiven nicht auf einzelne Fächer beschränkt bleiben. Geschichte und politische Bildung bieten naheliegende Anknüpfungspunkte, sind jedoch bei weitem nicht die einzigen Fachbereiche, in denen sich Kolonialismus diskutieren und koloniale Kontinuitäten finden und reflektieren lassen. Wenn der europäische Kolonialismus und seine Auswirkung wirklich als Macht- und Herrschaftssystem verstanden werden, die nahezu alle Lebensbereiche beeinflussen, ist die Nähe zu anderen Fachbereichen offensichtlich: Auch die Naturwissenschaften und die sprachlichen Fächer eröffnen die Möglichkeit, sich aktiv mit dekolonialen Perspektiven auseinanderzusetzen und den öffentlichen Raum als Lernort zu nutzen.
Prozess
Im Erarbeitungsprozess wurden zivilgesellschaftliche Vereine und Akteur*innen einbezogen. Der im Mai 2025 durchgeführte Expert*innen-Workshop diente der Identifikation von bestehenden Lücken in der schulischen Auseinandersetzung mit der (deutschen) Kolonialgeschichte sowie von thematischen Schwerpunkten und bewährten Ansätzen und Methoden. Im Rahmen des Projekts und mittels Einbeziehung des Stadtraums wurden sechs Workshops mit Schulklassen durchgeführt. Die Schulworkshops thematisierten dabei unterschiedliche methodisch-didaktische Zugänge, wie sie auch im Bildungsmaterial als Vorschläge für die Unterrichtsgestaltung aufgeführt sind – darunter ein Workshop zu Ressourcen und globalen Zusammenhänge sowie ein Workshop zu Biografien hinter (Straßen-)Namen mit Bezügen zur Schulgeschichte und Workshops zu kolonialen Spuren in Straßennamen der eigenen Lebenswelt. In einer anonymen Online-Umfrage wurden außerdem mögliche Herausforderungen, Ängste und Sorgen von Lehrkräften gesammelt und in den Handlungsempfehlungen des Bildungsmaterials aufgegriffen. Aus den Erfahrungswerten der Workshops und der Online-Umfrage, konnte eine konkrete Struktur des Bildungsmaterials herausgearbeitet werden.
Aufbau des Bildungsmaterials
Das Bildungsmaterial vermittelt nicht nur Wissen, sondern versteht sich als Werkzeug, um koloniale Bezüge im eigenen Fach oder Alltag zu erkennen, das eigene Wissen kritisch zu reflektieren und sich mit dekolonialen und antikolonialen Perspektiven auseinanderzusetzen. Dabei wird der Berliner Stadtraum als Lernort für die unterrichtliche Praxis verstanden und genutzt. Es soll dazu ermutigen, selbst aktiv zu werden, zu hinterfragen, weiterzudenken und zu forschen.
Einordnen: Historische Grundlagen und Selbstreflexion
Um eine gemeinsame Wissensbasis zu schaffen, bietet ein Abriss des Kolonialismus auf ökonomischer, sozialer, geopolitischer, kultureller und epistemischer Ebene eine Grundlage. Lehrkräfte werden angeregt, sich mit der Entstehung und den kolonialen Verflechtungen ihres jeweiligen Fachs auseinanderzusetzen und zu reflektieren, wo sich koloniale Kontinuitäten ausfindig machen lassen. Dabei geht es nicht nur um das, was überliefert und tradiert wurde, sondern auch um das, was ausgeblendet oder vereinnahmt wurde.
Darauf aufbauend wird ein neues Lehrkräfte-Selbstverständnis im pädagogischen Handeln gefordert. Das Kapitel lädt dazu ein, Unsicherheiten und Wissenslücken nicht als Defizit, sondern als Ausgangspunkt für Veränderung zu verstehen. Ziel ist es, Lehrkräfte zu ermutigen, dekoloniale Perspektiven nicht nur als Ergänzung, sondern als integralen Bestandteil ihres beruflichen Selbstverständnisses zu begreifen. Dafür müssen koloniale Verflechtungen des eigenen Faches und Wissensarchivs ausfindig gemacht und anschließend kritisch reflektiert werden.
Verorten: Koloniale Kontinuitäten im öffentlichen Raum
Der zweite Teil schlägt die Brücke zu kolonialen Kontinuitäten im öffentlichen Raum. Der Stadtraum wird als Speicher und Schauplatz von Geschichte beschrieben. Straßennamen, Denkmäler und Plätze wirken im Alltag oft selbstverständlich, sind jedoch Ausdruck von Narrativen, Entscheidungen und Auslassungen. Gleichzeitig werden demokratische und zivilgesellschaftlich partizipatorische Maßnahmen zur Dekolonisierung des Stadtraums diskutiert.
Lehrkräfte werden angeregt, ihre eigene Umgebung bewusst zu betrachten: Welche kolonialen Spuren sind in der Nachbarschaft oder im Umfeld der Schule in den Stadtraum eingeschrieben? Straßenumbenennungen, Info-Stelen oder alternative Stadtführungen eröffnen Lernanlässe, die Schüler*innen nicht nur informieren, sondern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart befähigen.
Anwenden – Handlungsempfehlungen
Was genau bedeutet das nun für den unterrichtlichen Alltag? Wie können Kolonialismus und koloniale Kontinuitäten im Unterricht angemessen thematisiert werden und wie können dekoloniale Perspektiven im Unterricht und in Lehr- und Lernmaterialien integriert werden? Das Kapitel widmet sich (strukturell bedingten) Fragen in der konkreten Umsetzung dieser Ziele: Einbettung der Themen in bestehende Rahmenlehrpläne unter Berücksichtigung von begrenzten zeitlichen Ressourcen, die kritische Überprüfung von Lehr- und Lernmaterialien sowie eine angemessene Rahmung, um über solch sensible Themen im Unterricht sprechen zu können. Das Kapitel soll Unsicherheiten und Herausforderungen von Lehrkräften in der alltäglichen Unterrichtspraxis auffangen und mögliche Handlungsoptionen liefern.
Als mögliche Perspektive werden zwei Unterrichtsvorschläge vorgestellt, die flexibel an die jeweiligen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lerngruppe angepasst werden können. Sie bieten einen Rahmen, wie Unterrichtsstunden zu diesen Themen gestaltet werden können, unter Berücksichtigung der zuvor genannten Handlungsempfehlungen.
Informieren – Weiterbilden und außerschulische Angebote
Darüber hinaus werden weitere Medien und Angebote zur Informationsbeschaffung aufgelistet werden, sowohl gesammelte Literaturempfehlungen als auch Angebote von Akteur*innen und Vereine im Bereich Dekolonisierung und Bildungsinstitution Schule – etwa Workshopangebote und Stadtrundgänge für Schulklassen.
Das Material steht als Print- und als barrierefreie PDF-Version auf unserer Webseite HIER zur Verfügung.
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