Vorstand von Decolonize Berlin

Wie gelingt koloniale Aufarbeitung?

Der Gründung des Vereins Decolonize Berlin im Jahr 2019 gingen langjährige Kampagnen und Aktivitäten voraus, wie beispielsweise „NoHumboldt 21!“, „No Amnesty on genocide“ oder Initiativen zur Umbenennung von kolonialen Straßennamen in Berlin. Diese mündeten schließlich in der zivilgesellschaftlichen Koordinierungsstelle für ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept zu Berlins kolonialer Vergangenheit.

Diese Aktivitäten waren jedoch meist von negativen Erfahrungen in der Aushandlung mit den Verwaltungsstrukturen der Stadt geprägt. Auch in Hamburg hatten zahlreiche Vereine und Aktivist:innen ähnliche Erfahrungen bei dem Versuch gemacht, einen Dekolonisierungsprozess in Gang zu setzen, waren aber nicht über Runde Tische und unverbindliche Maßnahmen hinausgekommen. Instrumente wie Runde Tische oder regelmäßige Konsultationsprozesse hatten zwar einen Austausch zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung ermöglicht, letztlich jedoch wenig Schritte und Maßnahmen zur konkreten Aufarbeitung nach sich gezogen. Die meisten Mittel flossen zunächst in die wissenschaftliche Aufarbeitung der kolonialen Stadtgeschichte, die Koordinierung einzelner Aktivitäten hingegen verblieb in der Hamburger Verwaltung, deren Glaubwürdigkeit nach jedem weiteren Austausch mit der Zivilgesellschaft sank.

Meist haben Verwaltungsstrukturen ihre Grenzen, auch wenn der politische Auftrag vom Parlament kommt. So gibt es in kommunalen Verwaltungen nicht nur ein Repräsentationsproblem, insbesondere für PAD (People of African Descent) und BIPoC-Personen, sondern es fehlt auch an der nötigen Expertise zu Fragen der kolonialen Vergangenheit und ihrer Wirksamkeit in der Gegenwart. Zudem schränken die formalen Zuständigkeiten in der Verwaltung das bereichsübergreifende Handeln ein. Dabei ist dies aufgrund der Verschränkung der Themenfelder insbesondere bei dekolonialen Prozessen nötig.

Dekolonisierung muss als Querschnittsthema betrachtet werden!

Gleichzeitig besteht ein erheblicher Vertrauensverlust in kommunalen Strukturen, insbesondere seitens Schwarzer und migrantischer Selbstorganisationen, die oft von strukturellem Rassismus betroffen sind, der in diesen Strukturen verankert ist. Für uns als dekoloniale zivilgesellschaftliche Akteur:innen in Berlin war es daher eine Gelingensbedingung, dass es eine Koordination für ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept für Berlins koloniale Vergangenheit in zivilgesellschaftlicher Trägerschaft gibt. Die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit einer Stadt ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung um ein funktionierendes Zusammenleben der Menschen in dieser Stadt. Es geht also auch um die Frage einer lebenswerten Stadt für alle. Daher ist die aktive Einbindung der Menschen in diesen Aufarbeitungsprozess von entscheidender Bedeutung. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip haben zivilgesellschaftliche Akteur:innen in der Erfüllung sozialer Aufgaben einen Vorrang gegenüber dem Staat. Diese Aufgaben an zivilgesellschaftliche Träger zu übertragen, stärkt nicht nur die Zivilgesellschaft, sondern auch die Demokratie. Zugleich gibt sie Impulse, treibt Innovationen voran, wirkt korrigierend auf staatliche Einrichtungen ein – dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte des Nationalsozialismus ein wichtiger Pfeiler der Demokratie.

Am 1. Mai 2020 hat die Koordinierungsstelle bei Decolonize Berlin offiziell ihre Arbeit aufgenommen, um gemäß dem Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses einen partizipativen Prozess für ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept Berlins kolonialer Vergangenheit zu organisieren und gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sowie der Verwaltung und Politik erforderliche Maßnahmen zu erarbeiten.

Drei Wochen später wurde George Floyd in Minneapolis, Minnesota, ermordet. Durch die Proteste von Black Lives Matter, aber auch durch die Kritik von Bénédicte Savoy am Humboldt Forum und ihre gemeinsame Publikation mit Felwine Saar sind die jahrzehntelangen Debatten um eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialvergangenheit und einen verantwortungsvollen Umgang mit kolonialen Kontinuitäten in die Mitte der Mehrheitsgesellschaft gerückt.

Das Ziel der Koordinierungsstelle ist, gemeinsam mit Berliner Akteur:innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung Maßnahmen zu identifizieren und umzusetzen, die die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus und dessen Auswirkungen insbesondere in Berlin voranzutreiben. Folgende Kriterien sind dabei handlungsleitend:

  • Maßnahmen werden in einem partizipativen Prozess mit der Zivilgesellschaft und insbesondere mit Schwarzen, diasporischen und migrantischen Gruppen identifiziert und unter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Gruppen gemeinsam mit dem Land Berlin und Berliner Institutionen umgesetzt.
  • Maßnahmen werden im Bewusstsein eines bereits jahrelang andauernden antikolonialen Widerstands in den ehemaligen Kolonien und in Deutschland entwickelt und umgesetzt.

Diese Kriterien wurden zunächst in einem transparenten und offenen zweijährigen Partizipationsprozess erarbeitet, der Raum für verschiedene Stimmen und Positionen bot. Es haben verschiedene Veranstaltungsformate wie Fachtagungen, Expert:innen-Interviews und Gesprächsrunden stattgefunden. Mehrere wissenschaftliche Gutachten für die Bereiche frühkindliche Bildung, Lehrkräftebildung und universitäre Bildung sowie Human Remains sind entstanden. Mittlerweile liegt ein ausführlicher zivilgesellschaftlich erarbeiteter Maßnahmenkatalog vor, den der Berliner Senat im April 2023 beschlossen hat und sieben Senatsverwaltungen mit Stellungnahmen kommentiert und erste Umsetzungsschritte benannt haben.

Die Anfragen bezüglich Fortbildungen und Beratungen zum Thema koloniale Aufarbeitung, Rassismus und koloniale Wirksamkeit bei der Koordinierungsstelle steigen - sei es von Senatsverwaltungen oder von Berliner Bildungsinstitutionen wie dem Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg, Universitäten oder von Schulen, von Sammlungen, Museen oder Einrichtungen der internationalen Zusammenarbeit. Auch wenn sich die konkreten Veränderungen nicht gleich im Handeln der Institutionen widerspiegeln, sind die ersten wichtigen Schritte für einen Aufarbeitungsprozess zur kolonialen Vergangenheit Berlins erfolgt.

Dieser Erfolg ist nicht zuletzt den vielfältigen und gut organisierten zivilgesellschaftlichen Strukturen sowie Fachexpert:innen, insbesondere Schwarzen, diasporischen und migrantischen, zu verdanken, die im Unterschied zu anderen Städten Berlin mit ihren Projekten, Ideen und ihrem Fachkenntnissen aktiv mitgestalten. Sie entfalten ein Potenzial für die Weiterentwicklung Berlins als diverse und internationale Metropole, das weder durch Mittelkürzungen noch durch parteipolitische Erwägungen gebremst werden sollte.