Zivilgesellschaft unter Druck in Zeiten der erstarkenden politischen Rechte(n)
Im Sommer 2024 wurden zwei Schwarze Mädchen (8 und 10 Jahre alt) in Grevesmühlen von einer Gruppe Jugendlicher rassistisch angegriffen. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigte eine EU-weiten Studie vom Oktober 2023 zu Rassismus gegen Schwarze, in der Deutschland am schlechtesten abschnitt: 76 % der Befragten gaben an, in den letzten 5 Jahren wegen ihrer Hautfarbe, Herkunft oder Religion benachteiligt worden zu sein (1).
Am 7. Oktober dieses Jahres entwendeten unbekannte Täter in Zeitz (Sachsen-Anhalt) alle zehn Stolpersteine, die an ermordete Juden und Jüd:innen erinnern. Postkoloniale Gruppen berichten von zunehmenden rassistischen Angriffen, vor allem bei Stadtrundgängen, die über koloniale Spuren aufklären. Schwarze Referent*innen an Schulen werden täglich mit dem Hitlergruß begrüßt. Das sind nur wenige Beispiele für die 10.000 rechtsextrem motivierten Straftaten, die allein im ersten Halbjahr 2024 registriert wurden: So viele wie noch nie.
Diese Fälle häufen sich vor allem in Regionen, in denen die Zustimmungswerte zu autoritären Aussagen und rechtsextremen Positionen von Parteien besonders hoch sind. Dort ist die Arbeit zivilgesellschaftlicher Gruppen besonders gefährdet. Und dies, obwohl die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren mit vielfältigen Projekten, Kampagnen und Interventionen dafür gesorgt hat, dass die Auseinandersetzung Deutschlands mit seiner kolonialen Vergangenheit und den Kontinuitäten ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt ist. Mehrere koloniale Straßennamen wurden ersetzt, die Diskussion über eine Rückgabe von im Kolonialismus geraubten Kulturgütern oder die Restitution menschlicher Gebeine (Ancestral Remains) aus kolonialen Kontexten findet auch auf internationaler Ebene statt. Debatten über wirtschaftliche Ungerechtigkeiten zwischen Staaten sind zunehmend auch mit der Aufarbeitung des Kolonialismus verknüpft. Prozesse der Dekolonisierung sind langwierig, anstrengend und bedürfen einer radikalen Transformation von Gesellschaften. Sie implizieren die Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Die Antwort darauf lässt sich nur partizipativ und unter Einbindung aller gesellschaftlicher Gruppen finden. Dazu braucht es den politischen Willen, Menschen und gesellschaftliche Strukturen, die sich daran beteiligen. Nicht alle wollen, dass eine diskriminierungsfreie, global gerechte Gesellschaft entsteht.
Parteien, die sich bisher dafür eingesetzt haben, übernehmen zunehmend rechtspopulistische Inhalte und Positionen, insbesondere in der Frage der Migration, um vermeintlich verlorene Wähler:innen zurückzugewinnen. Dabei verlieren sie die Grundrechte aller Menschen in Deutschland, die im Grundgesetz niedergelegt sind, und internationale Abkommen, wie die UN-Menschenrechtskonvention, aus dem Blick. Sie verstärken damit die Ablehnung gegenüber der Freizügigkeit von Menschen bzw. von Migrationsbewegungen, die Teil einer globalisierten Welt sind. Dies hat wie oben beschrieben sehr reale Konsequenzen für einen Großteil unserer Gesellschaft: Wenn jede:r dritte Polizist:in über rassistische Äußerungen durch Kolleg:innen berichtet, wird eine strukturelle und institutionelle Verfestigung deutlich (2).
Dass Zivilgesellschaften weltweit unter Druck stehen, zeigt sich auch in Deutschland: Erstmals ist die Bewertung zivilgesellschaftlicher Freiheiten (CIVICUS) von „offen“ auf „beeinträchtigt“ gesunken. Das zeigt sich zum Beispiel in der menschenrechtlich umstrittenen Präventivhaft für die Aktivist:innen wie der Letzten Generation, aber auch im mangelnden Schutz von Journalist:innen vor Übergriffen (3).
Darüber hinaus kamen in den vergangenen Jahren juristische Prozesse ins Rollen, die Anlass zur Sorge bereiten, wie etwa der Entzug bzw. die Nichtanerkennung der Gemeinnützigkeit auf der Basis individueller Einschätzungen von Beamten und rechtlicher Lücken sind kritische zivilgesellschaftliche Stimmen in Misskredit geraten. Aber dienen Initiativen wie Attac, Campact, VVN-BDA oder Omas gegen Rechts nicht der Allgemeinheit bzw. unserer auf Werten basierenden Gesellschaft? Was diese Vereine verbindet, ist die politische Arbeit und ihr Engagement gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus. Die Forderung nach einer Überarbeitung und Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts wird lauter - auch zum Schutz vor politischer Übernahme durch rechte Strukturen.
Neben einer soliden Finanzierung von Projekten im Bereich Antidiskriminierung, Demokratieförderung, globale Gerechtigkeit und Dekolonisierung braucht es einen klar formulierten politischen Willen für eine plurale Zivilgesellschaft, die sich nicht scheut, politische Entscheidungen zu kritisieren, und damit einen elementaren Bestandteil demokratischer Diskurse bildet. Es sollte daher die Aufgabe demokratischer Parteien sein, die Handlungsräume für Engagement und Zivilgesellschaft zu schützen und zu stärken - sei es durch die Überarbeitung von Gesetzen, der Finanzierung gesellschaftskritischen Engagements oder die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Expertise bei der Erarbeitung von Konzepten.
Wir als zivilgesellschaftliche Akteur:innen und als Netzwerke werden die erkämpften Räume halten und sichern. Dafür wünschen wir uns eine solidarische Zivilgesellschaft, die Kämpfe gemeinsam denkt und über unterschiedliche Erfahrungen und Lebensrealitäten hinweg für eine gerechte und inklusive Gesellschaft einsetzt. Wir wünschen uns eine Öffentlichkeit, die nicht die Augen vor rassistischen oder antisemitischen Vorfällen verschließt, sondern den Mut hat, laut zu werden, wenn es unbequem wird. Und die in Solidarität mit Betroffenen aktiv wird.
- https://fra.europa.eu/de/news/2023/schwarze-der-eu-sind-immer-groesserem-rassismus-ausgesetzt, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/deutschland-rassismus-studie-100.html
- https://polizeistudie.de/wp-content/uploads/Abschlussbericht_MEGAVO.pdf, (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/polizei-polizeistudie-100.html
- https://www.brot-fuer-die-welt.de/themen/atlas-der-zivilgesellschaft/zusammenfassung-2024/